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Den Zirkel der Gewalt durchbrechen

Traumahilfe zeigt Wege für trauma-

tisierte Kinder zurück ins Leben auf

Am Samstag, den 1. Juni 2013 fand im Anschluss an die jährliche Stifterver-sammlung der Gemeinschaftsstiftung terre des hommes ein Kolloquium zur Traumahilfe statt. Knapp 50 Stifter und Interessenten kamen in der Burg in Nürnberg zusammen, um Projekte zur Bewältigung von Traumata kennenzulernen. Die Tagung fügte sich ein in eine Reihe von Veranstaltungen zum 15-jährigen Jubiläum der Stiftung. Im Vordergrund stand die aktuelle Entwicklung in von terre des hommes geförderten Projekten. Referentinnen und Referenten berichteten über Projekte in Südostasien, in Mittelamerika, sowie über ein Projekt für traumatisierte Flüchtlingskinder in München / Deutschland. Zentrale Ergebnisse Vor allem drei Ergebnisse setzen sich nach vielen Einzelinformationen im Gedächtnis fest: 1. Traumata sind vielschichtig. Sie berühren mehrere Ebenen – von den basalen körperlichen Bedürfnissen nach Nahrung und Unterkunft bis zu mentalen Bedürfnissen nach Anerkennung, Selbstbewusstsein und Identität. 2. Traumata werden oft innerhalb einer Familie oder Gemeinschaft über mehrere Generationen weitergegeben. 3. Traumatische Erlebnisse hören auch nach einer gelungenen Flucht nicht unbedingt auf. Wie das Projekt aus München eindringlich zeigt, kommen vielmehr im Aufnahmeland oft neue belastende Ereignisse dazu, die das Trauma noch verstärken.

Traumahilfe in Südostasien und Mittelamerika

„The brain matters“, sagt Dr. Ann Parichawan Chandarasiri, Leiterin des Mekong-Projekts in Südostasien. „Auf das Gehirn kommt es an.“ Traumatische Erfahrungen hinterlassen Spuren im Gehirn. Sie führen dazu, dass der Körper das einmal Erlebte immer wieder durchlebt und es auch an die nächste Generation weitergibt. Dabei sind die Ursachen für traumatische Erfahrungen in den Ländern Südostasiens, in denen das Mekong-Projekt aktiv ist, nämlich in Kambodscha, Thailand und Indonesien, durchaus unterschiedlich. Sie reichen von Naturkatastrophen (wie dem Tsunami 2004), Gewalt in jahrelangen Bürgerkriegen, Armut bis zu anhaltender Diskriminierung und sexuellem Missbrauch von Frauen und Mädchen. Die Therapeutinnen im Mekong-Projekt setzen für ihre Behandlungen die EMDR-Methode ein. EMDR steht für Eye Movement Desensitization and Reprocessing. Es geht darum, durch bilaterale Stimulation, zum Beispiel wechselseitige induzierte Augenbewegungen oder Antippen der Hände einzelne traumatische Erlebnisse mit Unterstützung der Therapeutin noch einmal zu erleben. Die Erlebnisse sollen zu Ende durchgearbeitet werden, bis die gefühlte Erinnerung für das Kind nicht mehr belastend sondern eher neutral ist. Ziel der Therapie ist es, so Dr. Ann Chandarasiri, die „Narben auf der Seele zu glätten“, damit das Kind besser mit der Vergangenheit leben kann.

Mit einem weiteren Vortrag aus den südostasiatischen Projektländern berichtet Helga Mattheß, Fachärztin für Psychotherapie und Vertreterin des Partners Trauma Aid/HAP, über die Ausbildungssituation von Therapeuten und Gesundheitshelfern. Die Ausbildung, die Jugendliche und junge Erwachsene im Rahmen ihres Projekts machen können, geht über mehrere Stufen und dauert bis zu zehn Jahren. Sie wird begleitet durch ständige Selbstreflexion und Supervision. In der Therapie für die die Jugendlichen ausgebildet werden, müssen, so Helga Matthes, nicht nur die basalen körperlichen, sondern auch die psycho-mentalen Bedürfnisse von Trauma-Opfern berücksichtigt werden. Dr. Ute Sodemann, langjährige Mitarbeiterin von terrre des hommes und heute bei dem Partner Trauma Aid/HAP beschäftigt, interessierte sich für die „Kinder der Kriegskinder“ in Burma. Sie hat untersucht, welche Folgen die lange Militärherrschaft mit Krieg und Diktatur in dem Land hinterlassen hat, das sich erst seit 2011 unter einer neuen Regierung allmählich öffnet.

Dr. Sodemann führte eine psychologische Untersuchung zu traumatischen Erlebnissen und Reaktionen mit 400 Kindern und Jugendlichen durch. Die Untersuchung fand in zwei staatlichen und einer privaten Einrichtung sowie in zwei buddhistischen Klöstern statt – Einrichtungen, in denen Waisen, Kriegsflüchtlinge, verlassene Kinder und Straßenkinder untergebracht waren. Die Studie zeigt, dass über die Hälfte aller Jugendlichen in ihrem Sample klinisch relevante Störungen aufweist. Interessant dabei ist, dass der größere Teil der untersuchten Kinder und Jugendlichen seine Schwierigkeiten eher nach innen richtet und mit Problemen wie Depression, Zurückgezogenheit, Angst und Einsamkeit auffällt. Nur ein kleinerer Teil reagiert mit auffälligem oder aggressivem Verhalten nach außen. Auf der Basis dieser Ergebnisse hält es Dr. Sodemann für dringend notwendig, auch in Burma psychosoziale Maßnahmen zur Traumabewältigung nach dem Vorbild des Mekong-Projekts vorzunehmen.

Die Vielschichtigkeit und Dauerhaftigkeit von traumatischen Erfahrungen, die ihre Ursache in gewalttätigen gesellschaftlichen Strukturen haben, zeigt sich auch in Mittelamerika. Terre des hommes-Mitarbeiterin Gertraud Matthias berichtet aus Guatemala, wo die Gewalt auch nach dem Ende des langen Bürgerkrieges 1996 nie wirklich beendet war. An die Stelle des Krieges trat eine Art staatlich organisierte Gewalt: Drogenkartelle, organisierte Kriminalität, Schutzgelderpressungen und kriminelle Jugendbanden (Maras) prägen den gesellschaftlichen Alltag. Die Gewalt in der Gesellschaft setzt sich in den Familien fort. Es gibt Rassismus gegen die indigene Bevölkerung, patriarchale Strukturen und eine hohe Zahl an Vergewaltigungen und Frauenmorden. Die psychosozialen Folgen sind verheerend: Es gibt keine Vergangenheitsbewältigung der Zeit unter der Militärjunta. Die Menschen haben kein Vertrauen in den Staat, dessen Organe an entscheidenden Stellen mit denselben Leuten wie früher besetzt sind. Gewalt und Missbrauch gelten als normale gesellschaftliche Konfliktlösungsstrategie und werden kaum strafrechtlich verfolgt. Das Projekt Actoras / MTM, das Gertraud Matthias besucht hat, arbeitet mit Frauen und jungen Mädchen, die Opfer von Gewalt geworden sind. Nach einer Methode, die im Vorgängerprojekt Kaqla („Regenbogenfrauen“) entwickelt wurde, bietet Actoras Sensibilisierungs- und Selbsterfahrungskurse sowie die therapeutische Begleitung von Frauen an. Wenn nötig, bieten sie auch juristischen Beistand an und begleiten die Frauen auch vor Gericht. Sie möchten das Selbstbewusstsein der Frauen und ihrer Kinder stärken, indem sie ihre kulturelle Identität neu beleben. Sie sollen sich wieder als Teil der indigenen Kultur verstehen können.

Ein weiteres mittelamerikanisches Land, in dem über lange Jahre Bürgerkrieg herrschte, ist El Salvador. In diesem Bürgerkrieg (1980 – 1991) waren auch Tausende von Kindern als Soldaten rekrutiert worden. Es kam zu Vertreibungen und Binnenvertreibungen indigener Volksstämme. Terre des hommes-Mitarbeiter Ralf Willinger hat El Salvador besucht. Er berichtet von einem Museum in San Salvador, das sich zur Aufgabe gesetzt hat, die Erfahrungen aus dem Krieg aufzubewahren und weiter zu geben. Angegliedert sind verschiedene Maßnahmen und Produkte zur Friedensarbeit. Eines davon ist ein Handbuch zur Gewaltprävention. Die Publikation „Miteinander ohne Gewalt“ richtet sich an Kinder im Alter von 6 – 12 Jahren. Die Kinder sollen die Gewalterfahrungen, die sie oder ihre Familien gemacht haben, aufarbeiten und damit hinter sich lassen können.

Traumahilfe in Deutschland

Der Darmstädter Kinderpsychologe Dr. Norbert Kohl (re.) beschreibt aus seiner Sicht als leitender Oberarzt der psychosomatischen Kinderklinik Prinzessin Margaret den Stand der Trauma-Forschung in Deutschland. Er vermittelt einen Einblick in die Symptomatik, Diagnose und Therapiemethoden traumatischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Auch für ihn sind für ihn die meisten Traumata in die Geschichte eines Kindes eingebettet. Deshalb müsse man fragen: „Wie war die Kindheitssituation? Was war das Trauma vor dem Trauma?“

Ein konkretes Beispiel von Trauma-Arbeit in Deutschland präsentiert Anni Kammerlander von Refugio, dem Beratungs- und Behandlungszentrum für Flüchtlinge und Folteropfer in München. Seit Januar 2012 betreibt Refugio zusammen mit dem Max-Planck-Institut für Psychiatrie eine Trauma-Ambulanz für Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge (UMF). 2012 konnten dort 222 UMF betreut werden. In Deutschland leben zwischen 5.000 und 10.000 Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge, die Zahlen steigen. In München waren 2012 900 UMF in der Jugendhilfe, 2013 waren es schon 1.200. Hauptherkunftsländer sind aktuell Afghanistan, Irak, Nigeria und Somalia. Tausende UMF sterben auf der Flucht bzw. bei dem Versuch, nach Europa zu gelangen. Aber auch die Kinder und Jugendlichen, denen die Flucht nach Deutschland gelingt, finden im Exil keine günstigen Bedingungen vor. Frau Kammerlander hat die Lebensbedingungen und die Bedürfnisse der Jugendlichen untersucht und kommt zu einem erschreckenden Ergebnis: Etwa 50 Prozent der Probleme, die die Jugendlichen aktuell haben, entstehen durch die ungenügenden Lebensumstände in Deutschland. Die Jugendlichen unterliegen den allgemeinen, auch für Erwachsene geltenden Regeln des Einreise- und Asylrechts. Sie haben keinen gesicherten Aufenthaltsstatus und müssen ständig mit Abschiebung rechnen. Dagegen stehen die Bedürfnisse der Jugendlichen, die Gewalt und Entwurzelung in ihrem Herkunftsland entkommen sind. Dazu gehören Schutz und Sicherheit und eine Umgebung, in der sie zur Ruhe kommen können. Weiterhin notwendig sind eine frühzeitige Abklärung der psychischen Verfassung und Bedürfnisse sowie der Zugang zu medizinischer und therapeutischer Behandlung. Wichtig ist auch ein schneller Zugang zu Sprachkursen, Schule und Ausbildung. Frau Kammerlander benennt eine Reihe von notwendigen Schutzmaßnahmen, wie die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis, spezifische Abschiebungshindernisse für Minderjährige und entsprechend adäquate altersgerechte Aufenthaltstitel. Die Arbeit mit und für UMF müsste in den Aufgaben- und Leistungskatalog der Kinder- und Jugendhilfe einbezogen werden. Darüber hinaus fordert sie die vollständige Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention sowie weiterer internationaler Gesetze, die sich verbal dem Wohl des Kindes verschrieben haben.

Spätestens an dieser Stelle verlässt das Thema „Hilfe für traumatisierte Kinder“ den Bereich der psycho-sozialen Therapien und wird politisch: Was kann und was muss getan werden – in einem entwickelten Land wie der Bundesrepublik und in Ländern auf der südlichen Halbkugel –, um Kinder und Jugendliche nicht weiter der strukturellen Gewalt staatlicher Regelungen auszusetzen?

Dr. Bettina Schmitt