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»Wir sind traurig, weil unsere Familien weit weg sind«

»Es fühlt sich nicht gut an, meine Mutter alle zwei Wochen aus der Ferne und mit einem Mundschutz zu sehen«, sagt Isabella. Die 13-Jährige lebt im Kinderdorf Benposta vor den Toren der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá. »Wir sind geschützt, um das Gelände verläuft eine Mauer, die uns vom Leben in der Stadt trennt«, erzählt José Luis Campo, der das Projekt leitet. »Und doch merken wir die Pandemie. Von den 100 Kindern und Jugendlichen, die hier normalerweise leben, sind nur 47 geblieben – alle die, die keine Familie in Bogotá haben. Die anderen haben während des Lockdowns Unterkunft bei Verwandten gefunden.« Auch der 17-jährige Wilfray ist geblieben: »Wir sind traurig, weil unsere Familien weit weg sind, aber wir können uns auch glücklich schätzen, hier in Sicherheit zu sein.«

Im Projekt Benposta können Mädchen und Jungen, die in einem gewalttätigen Umfeld gelebt haben, wieder neuen Lebensmut fassen. Doch seit das Corona-Virus im Land grassiert, ist im Projekt vieles anders. In vielen therapeutischen Übungen, die normalerweise angeboten werden, geht es darum, dass die Kinder und Jugendlichen lernen, wieder anderen Menschen zu vertrauen. Bei diesen Übungen lässt sich die Distanz nur schwer einhalten, daher wurden sie reduziert. Stattdessen haben die Kinder gelernt, wie sie sich effektiv vor dem Virus schützen können, wie Distanz und Desinfektion seine Verbreitung verhindern und warum es wichtig ist, einander zu helfen und sich um andere zu kümmern. »Wir haben einige Angebote weggelassen, zugleich konnten wir aber auch andere Aktivitäten ausbauen, die wir schon seit längerem stärken wollten, zum Beispiel Karatetraining, Yoga und Nähen«, sagt José Luis Campo. »Und das mit Erfolg: Bei den Nähkursen haben sehr viele Jungen mitgemacht; das kommt nicht so häufig vor, weil viele es für eine typische Frauentätigkeit halten. Und die Yoga-Kurse haben dazu beigetragen, besser mit der Situation umzugehen und insbesondere Ängste und Depressionen zu vermeiden.« Auch Angela hat für sich etwas Neues entdeckt, die 16-Jährige hat während des Lockdowns mit dem Karatetraining angefangen. »Ich habe im Karate einen Weg gefunden, Disziplin zu trainieren. Und nebenbei habe ich auch gelernt, dass es keine gewalttätige Sache ist, sondern strenge Regeln hat.«

»Wir hatten anfangs die Befürchtung, dass die Konflikte zunehmen könnten, doch das Gegenteil ist der Fall«, sagt José Luis Campo. »Ich merke, dass wir im Projekt näher zusammengerückt sind, dass unsere Bindung stärker geworden ist. Wir erleben hier, dass Menschen in schwierigen Zeiten dazu neigen, sich bewusst zu machen, was wirklich zählt. Im Fall von Benposta geht es letzten Endes darum, füreinander zu sorgen.«

12.11.20